Hauer hatte einige Schüler, doch Victor Sokolowski kam eine besondere Bedeutung zu. Es war Sokolowski, der 1947 ein Zwölftonspiel erstmals öffentlich aufführte. Sokolowski, der sich der Verbreitung und Interpretation des Zwölftonspiels verschrieb, war es auch, der nach Hauers Tod die Zwölftonspiele didaktisch aufarbeitete und einen den Josef-Matthias-Hauer-Kreis zur Pflege des Zwölftonspiels gründete. Ausstellungen, Vorträge und die Produktion von Lehrmitteln folgten. Zwischen 1976 und 1982 leitete Sokolowski den Lehrgang für das Zwölftonspiel und die Tropen an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Sokolowski wurde 1982 in einem Ehrengrab der Stadt Wien direkt neben dem Grab von Josef Matthias Hauer auf dem Dornbacher Friedhof in Wien bestattet. Robert Michael Weiß, ein Schüler Sokolowskis, unterrichtet bis heute das Zwölftonspiel an der Josef Matthias Hauer-Musikschule in Hauers Geburtsort Wiener Neustadt.


„Musiker und Musikant“

Victor Sokolowski über seine Begegnung mit Josef Matthias Hauer

(aus: DiePresse, 19./20.Juli 1969)

1946 hat der in Wien tätige Cembalist (Victor Sokolowski), der sich bis dahin vorab für alte Musik interessierte (und heute als professor für Cembalo, Clavichord, alte Kammermusik und Klavier am Konservatorium der Stadt Wien wirkt) zu Josef Matthias Hauer gefunden.

„Ich hatte damals das Gefühl, kein fertiger Musiker zu sein. Ich sagte mir: Irgend etwas fehlt dir!

Er fand in dieser „absoluten Musik“, deren Struktur und Gesetzlichkeit vollkommen in sich ruht, eine Universalsprache, die den metaphysischen Sinn des Lebens nachzuempfinden ermöglicht.


Ergebnis einer Begegnung

Der Hauer-Schüler Oswald Pöstinger über die Begegnung von Josef Matthias Hauer mit Victor Sokolowski

Die Begegnung Josef Matthias Hauer’s mit Victor Sokolowski gehört zweifellos zu jenen charakteristischen Phänomenen zwi­schenmenschlicher Beziehung, deren scheinbare Zufälligkeit sich nachträglich als schicksalhafte Notwendigkeit erweist. Rückschauend kann man heute feststellen, daß die im Jahre 1946 sich anbahnende Freundschaft zu einem entscheidenden Wendepunkt im Leben beider Persön­lichkeiten geführt hat. War Hauer in den Jahren zuvor durch die faschistische Diktatur gewaltsam zum Schweigen verur­teilt, so hat er sich nach Kriegsende inzwi­schen freiwillig vom öffentlichen Musikleben distanziert.

Die Atombombe und der von Musikingenieuren fabrizierte Klangmüll waren seiner Überzeugung nach Ausgeburt ein und derselben Geisteshaltung. Daß die Musik in ihrer höchsten Bedeutung nur ein Weg zu sich selbst sein kann, war für Hauer seit Jahrzehnten eine unumstößliche These. Mit der Entdeckung des Zwölftonspieles hatte er jedoch zugleich die Methode gefun­den, diesen Weg ohne Umschweife, unter Ausschaltung jeglicher Ideologie, zu gehen. Die Wirksamkeit dieser Methode hat uns Hauer an seiner eigenen Person demon­striert – half sie ihm doch, den „Kom­ponisten“ in sich selbst zu überwinden.

Die kompromißlose Haltung Hauer’s in Bezug auf seine Musik führte schließlich dazu, daß selbst ein ihm wohlgesinnter Personenkreis (der mit Beharrlichkeit den „Komponisten“ Hauer wieder an die Öffentlichkeit bringen wollte) allmählich zerfiel. Das Zwöltonspiel wurde als trockene Ton-Mathematik (wie sie diese Musik nannten) abgetan. Für gewisse Musikgewaltige der damaligen Zeit aber war es geradezu ein „öffentliches Ärgernis“ und ich weiß aus eigener Erfahrung zu berichten, daß der persönliche Umgang mit Josef Matthias Hauer unter Umständen diverse Repressalien nach sich zog.

Dies war in großen Zügen die Situation, in der Victor Sokolowski (angesehener Musik­pädagoge, Cembalist und Spezialist für alte Musik) bei Josef Matthias Hauer auftauchte. Als ein Suchender nach dem ethischen Sinn der Musik, hat Sokolowski ohne Zweifel das Verdienst, nicht den „Komponisten“ Hauer, sondern den großen Lehrer und „Magister Ludi“ im wahrsten Sinne des Wortes erkannt zu haben. Für Hauer und Sokolowski ergab sich eine Zeit fruchtbar­ster Wechselwirkung. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Monsterkonzerte in der Lichtenfelsgasse in Wien, bei denen Sokolowski dem Meister durch Tage und Nächte hindurch am Cembalo vorspielen mußte. Als Entlohnung hierfür wurde er mit dem Ehrennamen „Cembalowski“ bedacht.

Hauer hatte bis zu dieser Begebenheit nie sonderlich viel Interesse für alte Musik gezeigt, doch hier in der exzellenten Vor­tragsweise Sokolowski’s erkannte er schlagartig, daß die Gesetzlichkeit des Zwölftonspieles in der Musik der Renaissance und des Barock bereits keim­halt vorgebildet war. Das Erlebnis dieses Sachverhaltes löste in Hauer eine überschwengliche Begeisterung aus und be­wirkte eine große Befruchtung in der Aus­formung des Zwölftonspieles. Als Augen­- und Ohrenzeuge dieser Entwicklung darf ich heute die Feststellung machen, daß durch Sokolowski“s Intentionen Hauer gleichsam aus dem luftleeren Raum wieder zur Erde zurückgeholt wurde. Letzterer ent­wickelte in der Folge auch eine Schaffens­tätigkeit, die kaum ihresgleichen findet.

Im Jahre 1947 wurden durch Victor Sokolowski in Wien zum ersten Male Zwölf­tonspiele öffentlich aufgeführt. Diese Tat legte den Grundstein dafür, daß sich wieder eine Reihe von Menschen für Hauer zu interessieren begann. Sokolowski´s Interpretationen des Zwölf­tonspieles können als absolut authentisch und verbindlich gelten, weil er es verstand, die Strukturgesetzlichkeit dieser Musik exakt in die Spieltechnik seines Instru­mentes umzusetzen.

Meine persönlichen Gespräche mit Josef Matthias Hauer über aufführungspraktische Probleme beim Zwölftonspiel endeten sei­nerseits meist in der drastisch-lapidaren Bekenntnisformel: ,,Ihr müßt alle so spielen wie der Cembalowski!

Vorliegende Zwölftonspiele entstammen den Jahren 1946 – 1955 und stellen gewis­sermaßen eine Dokumentation obiger Ausführungen dar. Besonders bemerkens­wert sind darunter die fünf Fassungen des Zwölftonspieles vom April 1946 (mit dem Zwöltonzyklus B – A – C – H) weil sie die erste, durch Victor Sokolowski inspirierte Arbeit, Hauer´s darstellen. Es ist dies zugleich auch das erste für Cembalo verfaßte Zwölftonspiel und beinhaltet fünf neue Spielformen, die vor diesem Zeitpunkt in keinem der Hauer“schen Werke anzutreffen sind. Die erste Fassung bringt den reinen Zwölftonzyklus in Form von sich bildenden Klangflächen, die ihrerseits durch fünftönige Perioden determiniert sind. Dadurch er­scheint jede sich wiederholende Zwölf­tonfolge in einer neuen raum-zeitlichen Konstellation. Nachdem dieses Verfahren wieder in seine Ausgangsposition mündet, wird der ganze Zyklus analog, in rückläufi­ger Form abgespielt. Die 2. und 3. Fassung wird von einem zweistimmigen Duktus geprägt, der wiederum aus dem vorausge­gangenen Kontinuum ausgegliedert wurde. Diese Spielvariante besteht aus einer Prinzipalstimme, das ist eine relativ selb­ständige, lineare Tonfolge, die aber alle Hauptfunktionen des zugrundeliegenden Kontinuums enthält, sowie einer Plagialstimme, deren Verlauf als Kontrapost zur Prinzipalstimme verstanden werden kann.

Letztere ist in der 2. Fassung als Ober­stimme und in der 3. Fassung (raum-rhyth­mischen Abwandlungen) als Unterstimme zu hören. Die 4. Fassung bringt eine meli­sche FigtJration des Kontinuums mit eigen­artigen Uberlagerungen und Zäsuren, die durch direkte Zwölftonschritte hervorgeru­fen werden. Die 5. Fassung stellt das Kontinuum vor. Darunter verstehen wir, die in der Natur einer Zwölftonkonstellation lie­genden Klangfunktionen, die bei ihrer Realisation ein vierstimmiges, harmoni­sches Band ergeben. Das Kontinuum erscheint hier in durchgehender Abwechs­lung von progressiven und regressiven Reihenformen, die überdies in sechs ver­schiedenen Transpositionen stehen.

Des weiteren können wir die Bildung von sie­bentönigen Perioden beobachten, die gleichzeitig eine neue Drehform oder Lage des harmonischen Bandes einleiten. Grund­sätzlich gibt es bei allen fünf Fassungen nichts, was nicht aus der zugrundelie­genden Zwölftonkonstellation bzw. dem Kontinuum, exakt abgeleitet werden könn­te. Die Freiheit des Spieles besteht jedoch in der Anwendung eines möglichen Algorithmus auf ein bestimmtes Modell. Wobei es natürlich, wie für jede Problem­stellung, optimale Lösungen gibt. Erwäh­nenswert wäre noch das Zwölftonspiel vom 26. November 1946 mit seiner gewaltigen inneren Dynamik.

Eine schöne Doku­mentation der fruchtbaren Begegnung Hauer – Sokolowski ist das Zwölftonspiel vom 2. November 1952 mit der Überschrift: ,,Johann Sebastian Bach hat das wohltem­perierte Klavier im Himmel vollendet und seinem Freunde Cembalowski zur getreuen Nachahmung gewidmet.“ In diesem Stück zeichnet sich überaus deutlich die Assimilierung gewisser barocker Spielelemente ab. Zunächst wird im Unisono die Prinzipalstimme vorgestellt, gefolgt von einer harmonischen Figuration des Kontinuums. Dieser Abschnitt trägt quasi den Charakter eines Präludiums. Das Spiel gipfelt schließlich in einer vier­stimmigen Textur, deren polyphones Stimmgewebe im vierfachen Kontrapunkt steht und wiederum gewisse Analogien zur Fuge zuläßt. Doch handelt es sich hier um reine „Anspielungen“ im wahrsten Sinne des Wortes. Die innere Struktur dieser Musik wird davon in keiner Weise verändert. Dieses Zwölftonspiel repräsentiert in seiner Dichte gleichsam die Quintessenz der „Sokolowski“schen Epoche“ Hauer“s. Josef Matthias Hauer hat dieses Werk auch in rührender Weise an jenen Menschen zurückgegeben, der es in jahrelanger treuer Mitarbeit einst angeregt hat.

Text: Oswald Pöstinger

Quelle: Begleitheft zur CD ‚Eine Begegnung‘, Belvedere-Musik Editional International, CD 10.114 AS, 1997

1946
am 6. März erste Begegnung mit Josef Matthias Hauer (XXVII. Zwölftonspiel für Streichquartett und Cembalo mit einer Zwölftonreihe, die in sechs verschiedenen Tropen steht und die von Victor Sokolowski gewählt wurde)

1947
erste öffentliche Aufführung von Zwölftonspielen im Agathon-Verlag des L. W. Rochowanski in Wien

Quelle: Bibliothek von Babel Musikabteilung, Link 

XXVII Zwölftonspiel für Streichquartett und Cembalo. 6.-11.3.1946.
Tonreihe, die von Victor Sokolowski gewählt wurde. l 20.5.1947,
Wien, Galerie Agathon: Sokolowski. HS (mEW, 12 Ton-, 7 Ton-Partitur)
Hauer-Studio, Wien / Fassung für Streichquartett und Klavier HS (12-Ton)
Sokolowski / Fassung für Streichquartett HS (12-Ton) Privatbesitz, Wien

Quelle: Hauer, Schriften, Manifeste, Dokumente, musikzeit.net, Verlag Lafite


Quelle: 80 Jahre Zwölftonmusik, Josef Matthias Hauer, 1999

Foto-hauer-sokolowski-rochowanksi

Hauer – Sokolowski – Rochowanksi

in der Galerie Agathon bei der ersten öffentlichen Aufführung von Zwölftonspielen durch Victor Sokolowski am 20. Mai 1947
Foto von Ernst Hartmann, Josef-Matthias-hauer-Studio Victor Sokolowski, Wien




Welt am Abend, 20. Mai 1947, Seite 3




JOSEF MATTHIAS HAUER ZWÖLFTONSPIELE
CEMBALO: VICTOR SOKOLOWSKI
Eine Begegnung: 20 Zwölftonspiele

Erschienen 1997. Belvedere-Musik Edition International. AGS records CD 10.114AS. ISBN 9004975101145.