Zwölftonspiel und Zwölftonmusik

Josef Matthias Hauer und Arnold Schönberg

Die Begriffe ,Zwölftonmusik‘ und ,Zwölftontechnik‘ sind in der Vorstellung der meisten Menschen mit dem Komponisten Arnold Schönberg verknüpft. Jedoch hat Josef Matthias Hauer bereits 1919 als Erster mit seiner 12-tönigen Komposition Nomos, op. 19 im System mit 12 Tönen komponiert.

Im Prioritätenstreit um die „Erfin­dung“ der Zwölftontechnik anerkannte selbst Schönberg die Vorrei­terrolle seines „Kontrahenten“ (den er gleichwohl in seinem Verein für Musikalische Privataufführungen wohlwollend vorstellte): ,,Ich habe Sie mit den Hörnern eines Stieres bekämpft, um nicht als Plagiator da­zustehen“, hat Schönberg an Hauer geschrieben.(1)

Im Gegensatz zur ,Zwölftonmusik‘ von Schönberg wird Hauers Verfahren als ,Zwölftonspiel‚ bezeichnet. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Verfahren liegt darin, dass Hauer jeden künstlerischen Einfall ablehnt. In seinem Manifest vom 16. März 1947 distanziert er sich von seinen früher entstandenen Kompositionen, alleine das Naturgesetzen folgende Zwölftonspiel erkennt er an.

Hauer wollte nicht musikalische Entwicklung darstellen, sondern eine vergeistigte Ordnung der zwölf Töne. Damit befand er sich in gewisser Nähe zu anderen Künsten, etwa zur Abstraktion in der Malerei. Es gab einen umfassenden Gedankenaustausch zwischen Johannes Itten und Hauer – und den Plan, am Bauhaus von Walter Gropius eine Musikklasse aufzubauen. Neueren Forschungen zufolge war es Hauer, dem Hermann Hesse in seinem Glasperlenspiel ein Denkmal schuf. Seine „Zwölftonspiele“ , von denen rund 1000 existieren, zeigen, wie sich Hauer die Tonkunst vorstellte: Ihm schwebte eine Einheit von Musik und Kosmos vor, wobei er auf die antike Idee der „Sphärenharmonie“ ebenso zurückgriff wie auf fernöstliche Denkweisen. (2)

SPIELEN – KOMPONIEREN

von Robert Michael Weiß

Josef Matthias Hauer wurde im Jahre 1883 zu einer Zeit geboren, da alle uns heute so selbstverständlich erscheinenden Errungenschaften der modernen Zivili­sation noch unbekannt oder doch in ihrer heutigen Form unvorstellbar waren. Zum Ende seines Lebens im Jahre 1959 aber hatte diese großartige technische Expansion mit der Erfindung der modernen Massenver­nichtungsmittel einen Punkt erreicht, an dem ein Ende nicht nur jeglichen Fortschritts, sondern sogar der ganzen Menschheit in eine vorstellbare und bedenkli­che Nähe gerückt schien.

Hauer gehörte somit einer Generation an, die, wie viel­leicht keine zuvor, in einer so wahrhaft umwälzenden, sich sogar schon gegen den Menschen selbst richten­den Entwicklung das Zu-Ende-Denken einer Sache miterleben konnte und mußte. Er selbst verstand sich darin als einer, der mit seiner Entdeckung des Zwölfton­spieles auf geistigem Gebiet einer solchen Entwicklung etwas entgegenzusetzen vermochte.
Nicht umsonst finden wir in den von ihm selbst zitierten Anklängen an chinesische Überlieferungen auch die Geschichte jenes Musikers, der die Töne ordnete – und damit das Weltgefüge.

Tatsächlich zeigt sich in dem von Josef Matthias Hauer gefundenen System der 44 Tropen ein Abbild derselben Struktur, die auch hinter den 64 Hexagrammen des jahr­tausendealten chinesischen Weisheits- und Orakelbu­ches I Ging steht. Wie die Hexagramme sind auch die Tropen Darstellungen von raum-zeitlichen Einzelzustän­den, die durch Wandlungen ineinander übergehen und so immer Ausschnitte aus einer Gesamtordnung, einer Totalität, wiedergeben.

Hauer mußte aber erkennen, daß in einer solchen Ordnung eine gewisse persönliche Willkür (nicht Frei­heit!) ausgeschaltet wird; der Schritt vom (willkürlichen) Komponieren zum (unwillkürlichen) Spielen konnte, mußte vollzogen werden.

Sosehr eine unmittelbare historische Entwicklung zum Zwölftonspiel hin fehlt (im abendländischen Denken gibt es keine „Richtung“, keine Tradition, die ein solches Spiel als notwendige Folge erscheinen läßt), sosehr finden wir schon in ältesten Überlieferungen immer wieder Hinweise auf alle Arten von Spielen und deren tiefere Bedeutung: Stets war der Urgrund des Spiels ein Abbilden kosmischer Vorgänge (Ballspiel = ,,Globus­Spiel“), das Spiel daher eine „ernste“ Angelegenheit. Und müssen wir nicht heute – konfrontiert mit all den Problemen, die unser Einwirken auf die Umwelt hervor­gerufen hat – ein neues Selbstverständnis finden, als Teile in einem großen Gleichgewichtssystem, als Figu­ren in einem Spiel?

Josef Matthias Hauer hat in Erkenntnis des tieferen Sinnes jedes Spieles also sehr wohl das Recht, seine früher geschaffenen Werke als den Spielregeln des Zwölftonspieles noch nicht entsprechend abzulehnen. Und doch ist es für uns interessant, in Kenntnis dieser ,,Spielregeln für das Zwölftonspiel“ in Hauers Komposi­tionen das schrittweise Entdecken dieser Gesetzmäßig­keiten zu sehen.
Gerade diese Gesetzmäßigkeiten führen ja nicht nur zum „kosmischen Spiel mit den zwölf Tönen“, sondern stellen natürlich auch grundlegende musikalische Gesetzmäßigkeiten dar.
Durch das Ausgehen von der chromatischen Totalität aller zwölf Töne wird es möglich, die Diatonik, also das Verwenden von z.B. nur sieben Tönen in einer Dur- oder Molltonleiter, als einen Einzelfall daraus zu betrachten; neue musikanalytische Möglichkeiten tun sich auf, und manche (nicht nur klangliche) Ähnlichkeit des Zwölfton­spieles zu Werken von Johann Sebastian Bach beispielsweise zeigt sich in überraschend neuem Licht.
Hauer spricht das ja in seinem Manifest vom 6. Mai 1958 aus:

„In der Zwölftonmusik ist alles da, was das Wesen der Musik überhaupt ausmacht, nämlich:
Melos, Harmonie und Rhythmus.

Das Entscheidende an der Arbeit mit einer Zwölfton­reihe ist daher das Lesenkönnen ihrer organischen Gesetze.
Ich zeige also meinen Schülern nur den Weg, wie man die psychophysischen Voraussetzungen dafür schafft.
Das ist mir deshalb möglich geworden, weil ich mein Werk vollenden konnte: denn ich habe in meinem ganzen Leben nur ein Werk geschrieben:
das Zwölftonspiel!“

aus dem Katalog zur Ausstellung 1983 im Historischen Museum der Stadt Wien anläßlich des 100. Geburtstages von Josef Matthias Hauer

(1) Salzburger Nachrichten, 28.3.1998, S.9
(2) Der Standard, „Glasperlenspiel und Sphärenharmonie“, 23.9.2009

„Ich lehne alle meine auf dem Weg zur Erkenntnis entstandenen Musikanten-Ideen-Kompositionen ab, weil ich nur die große, vollkommene kosmische, ewig unveränderliche absolute Musik, die wirkliche Sphären­harmonie, das Heiligste, Geistigste, Wertvollste auf der Welt, die Herz und Verstand befriedigende Offenbarung der Weltordnung als Religion, die Ursprache, das unmittelbare, die Vernunft ansprechende, das Gemüt ergreifende Wort Gottes, die Kunst aller Künste, die Wissenschaft aller Wissenschaften, kurz gesagt, weil ich nur das Zwölftonspiel anerkenne.

Nicht von der Universität, sondern von des Universums Gnaden“

Der Musiker
Josef Matthias Hauer

Wien, 16. März 1947