Musik und Meditation

Ein Gespräch über das Zwölftonspiel von Josef Matthias Hauer

A.: Wenn man als unbefangener Beobachter zum ersten mal ein sogenanntes „ Zwölftspiel“ hört, fällt einem zunächst auf, dass es kaum einen stärkeren Gegensatz gibt zu fast allem, was heute komponiert wird, als diese quasi „ kunstlose“ ( um nicht zu sagen „ natürliche) Kunst Josef Matthias Hauers.

Darüber hinaus tritt dieser Gegensatz gerade dort am intensivsten in Erscheinung, wo es sich andererseits um offenbare „ Zwölfton-Kompositionen“ handelt.

Es ist mir zwar bekannt, dass bereits in der Geburtsstunde der Zwölftonmusik eine Polarisation  erfolgte, die weitgehend mit den Namen Josef Matthias Hauer und Arnold Schönberg verknüpft ist; aber ein derart ins Ohr springender Kontrast kann doch nicht eine bloße Stilfrage zweier Persönlichkeiten sein.

B.: Deine Vermutung, dass es sich hier nicht um eine bloße Stilfrage handelt, ist vollkommen richtig. Es ist dies vielmehr eine Frage der geistigen Haltung und Ausrichtung zweier gegensätzlicher  Menschentypen in Bezug auf das Tonmaterial im Allgemeinen und die Zwölftonordnung im Besonderen. Metaphorisch könnte man die Haltung Hauers als die des Ostasiaten bezeichnen, während Schönberg die Haltung des Westeuropäers einnimmt.

Für Hauer ist die Zwölftonordnung etwas natürlich und organisch Gewachsenes, in dessen Eigengesetzlichkeit er sich in subtilster Weise einhorcht und einlebt, sodass diese Gesetzlichkeit gleichsam sich selbst ausspielend in tönenden Formen zur Entfaltung gelangt. Natur und Geist bilden für ihn eine untrennbare Einheit, vergleichsweise wie Wurzel und Krone ein und desselben Baumes.

In diesem Sinne handelt er auch wie der Gärtner, das  Wachstum eines solchen Baumes beobachtend und fördernd, mit dem Wunsch, der Mensch möge die Haltung des Baumes einnehmen, die Haltung eines Wachsens, das keine Abschnitte kennt und kein Ziel, das erreicht werden muss, da jede Wegetappe sowohl Anfang als auch Ende ist.

Unabhängig bezeugt Hauer, dass man ein „ Zwölftonspiel“ nicht komponieren, sondern nur organisch ausformen könne, was in der Natur und in der Konstellation des Materials bereits keimhaft angelegt ist. Musizieren bedeutet für ihn ein Aufgehen des Einzelnen im Ganzen und im Kosmos. Aus diesen  Gedankengängen  dürfte die Wahlverwandtschaft Hauers mit fernöstlicher Lebenseinstellung bereits deutlich sichtbar werden.

Für Schönberg hingegen ist die Eigengesetzlichkeit der Zwölftonordnung völlig irrelevant, er sieht in letzterer eine bloße Möglichkeit „logischer Formgebung“. Seiner Auffassung nach stiftet das Tonmaterial von sich aus  keinen Zusammenhang, sondern erst in der aktiven Auseinandersetzung mit der „ musikalischen Idee“. Wir müssen zugeben, dass uns diese Formulierung sehr viel vertrauter klingt, als diejenige Hauers. Wir bemerken nämlich gar nicht mehr, dass wir uns damit in einer Konfliktsituation befinden, weil dieselbe für unser Denken und Empfinden gewissermaßen einen Dauerzustand bildet. Schönberg steht hier vollkommen in der Tradition des Abendlandes; innerhalb derer der Geist von der Natur getrennt ist, um als eine mit Verstand begabte Kraft auf eine stumpfe und widerspenstige Materie einzuwirken.

A.: Soweit ich informiert bin, hat Josef Matthias Hauer das Zwölftonspiel aus dem Bereich der Kunst weitgehend ausgeklammert und wollte es ausschließlich als „ Kosmisches Spiel“ mit den zwölf temperierten Tönen verstanden wissen. Bedeutet dies nicht einen radikalen Verzicht auf freie schöpferische Entfaltung?

B.: Dies ist eine reine rhetorische Frage, die am Wesen der Sache vorbeigeht. Josef Matthias Hauer hat  im Zwöltonspiel niemals eine Antithese zur Kunst oder gar einen Kunstersatz, sondern eine einfache und im höchsten Grad wirksame Möglichkeit die Musik in den Dienst der Meditation zu stellen.

Die Entscheidung, ob ich nun komponieren oder meditieren will wird mir durch das Zwölftonspiel nicht abgenommen und es ist daher nicht sinnvoll diese Dinge gegeneinander auszuspielen. Von einem Verzicht auf schöpferische Entfaltung kann man außerdem nur dann sprechen, wenn man diesen Begriff ( laut abendländischer Tradition ) einseitig nach außen gerichtet sieht, nämlich in der Hervorbringung von „ Werken“.

In der meditativen Praxis jedoch erscheint der schöpferische Impuls nach innen gerichtet, er wird in unserem Fall durch die Musik selbst ausgelöst und manifestiert sich in Form eines inneren Reifeprozesses des Meditierenden. Mit einfachen Worten ausgedrückt: Es kommt beim Komponieren darauf an, was dabei „ herauskommt“, beim Meditieren jedoch, was dabei „hereinkommt“.

A.: Wenn ich richtig verstanden habe, liegt der Sinn des Zwölftonspiels primär in seiner Ausübung und nicht in seiner Erfüllung.

B.: Absolut richtig. Wir können das Zwölftonspiel  als „ harmonikales Exerzitium“ bzw. als „auditive Meditationsübung“ bezeichnen, mit dem Ziel, unser Bewusstsein dem Unbewussten harmonisch anzugleichen. Selbstredend verlangt eine derartige Übung viel Geduld und Ausdauer. Wir müssen lernen, unser „Ich“ im „Nomos“ des Spieles völlig aufgehen zu lassen. Wenn dann allmählich der „Kanon“ des Zwöltonspieles zu unserer eigenen Natur geworden ist, verschwindet auch die „Gegenständlichkeit“ der Musik und wir erreichen jenen Grad von Intuition, den man gemeinhin als integrales Bewusstsein bezeichnen kann. Josef Matthias Hauer erkannte für den abendländischen Bereich in der Musik eines  der letzten Refugien transzendentaler Erfahrung.

A.: Es gibt unter den vielfältigen Meditationspraktiken des Ostens einen Weg der als Mandala- Meditation bekannt ist. Die nach bestimmten Ritus gezeichneten oder gemalten Mandalas  stellen symbolische  Repräsentationen einer kosmischen Ordnung dar, der inneren physischen Ordnung des Menschen als Teilhaber am äußeren Kosmos in seinem elementaren Aufbau und der psychischen Ordnung des Menschen als Zentrum der spirituellen Selbstverwirklichung. Wer mit sich eins wird, hat die Mitte  seines Selbst gefunden. Wer diese Mitte nun in der Konzentration auf das Mandala verwirklicht, nimmt Anteil am eigenen psychischen Geschehen und fühlt sich zugleich eins mit der kosmischen Welt. Das Mandala zeigt in seiner strengen und immer gleichartigen Anordnung – Kreis und Quadrat – ein allgemein verbindliches Symbol der Integration von Gegensätzen, die hier zu untrennbarer Einheit zusammengeschlossen sind. Als besonders interessant erscheint mir der  Hinweis, dass die sinnlichen, ästhetischen und gefühlsmäßigen Impulse, die bei einer Mandala-Meditation ausgelöst werden, eine wertvolle Quelle geistiger Energie bilden; es sollen damit einige tiefere Schichten des Bewusstseins erreicht werden, die dem  begrifflichen Denken nicht zugänglich sind. Könnte man hier von einer geradezu verblüffenden Parallele zum Zwölftonspiel  im visuellen Bereich sprechen?

B.: Deine Ausführungen zeigen mir, dass du bereits ein Verstehender geworden bist. Nichts anderes ist nämlich das Zwölftonspiel als ein „Tönendes Mandala“, wenn du so willst. Im  Zwölftonspiel steht alles für seelische Totalität, und zwar jedes Detail für sich, und doch  fügt  es sich dem übergeordneten Gesetz harmonisch ein, genau wie dies mit den psychischen Funktionen in der Integration zu geschehen hat. Gerade wegen des Erlebnisses psychischer Totalität und der Ganzheit ist der Wert der auditiven Meditation bedeutend. Die sanfte Gewalt „Musik“ wirkt inspirierend zur Anregung und Beschleunigung innerseelischer  Prozesse.

Jedes Zwölftonspiel ist ein Modell der Relationen zwischen Mensch und Kosmos, ein harmonisches Psychogramm, dessen Ordnung die Psyche des auditiv Meditierenden in wunderbarer Weise durchtönt und verwandelt.

A.: Jetzt wird mir allmählich auch klar, dass die vielfach geäußerte Behauptung, die  Hauer Schule weise keine  der Schönberg-Schule adäquate musikalische Potenzen auf, völlige Unkenntnis der Sachlage zeigt. Denn wer letztlich nur seinen musikalischen Ehrgeiz befriedigen will, wird sich kaum mit dem Zwölftonspiel befreunden.

Unter  diesen Gesichtspunkten wäre es notwendig, den Begriff der „ Musikalität“ neu zu bestimmen. Er würde die Fähigkeit des Menschen bedeuten, seine individuellen Ansprüche mit den universellen Erfordernissen in Übereinstimmung zu bringen; wobei die real erklingende Musik das Medium dieser Kommunikation ist.

B.: Genau das ist auch gemeint, wenn in einem alten chinesischen Traktat gesagt wird:

„Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie kommt aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Sinn der Welt erkannt hat, über Musik zu reden“.

Es ist die Aufgabe des „harmonikalen  Exerzitiums dem Menschen um der Erkenntnis willen, die nicht durch den Verstand errungen werden kann, sondern allein mit dem unaussprechlichen Vermögen der Seele, zu wissen, was „aus dem Rechten kommt“, einen Weg zu weisen, der ihm am Spiel klingender Formen, im Gleichnis den Sinn der Wirklichkeit offenbart, indem er durch dieses an das Tor dieser Wirklichkeit herangeführt wird und damit auch seine eigenen Proportionen wiederfindet. Josef Matthias Hauer nannte es schlicht

„Ein Horchen auf den ethischen Sinn der Welt“.

 Text: Oswald Franz Ferdinand Pöstinger

Quelle: 80 Jahre Zwölftonmusik, Josef Matthias Hauer, 1999